„Hinter verschlossenen Türen versuchen Unternehmen und Forschende, den Code unserer Gedanken zu knacken.“ Mit diesem Satz auf den ersten Seiten beginnt Janosch Delcker seine inhaltliche Reise in eine Welt, die sich bislang weitgehend im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit entwickelt hat. Während die Debatte um Künstliche Intelligenz meist um ChatGPT und Jobverluste kreist, richtet der Journalist und ehemalige „KI-Korrespondent“ von Politico und der Deutschen Welle seinen Blick auf etwas weitaus Intimeres: Technologien, die darauf abzielen, unser Innenleben zu entschlüsseln. Delckers „Der Gedanken-Code“ ist eine gut lesbare, reportagenhaften Tour, die von den Dächern von Paris über die Überwachungsmetropole Hyderabad bis ins patagonische Niemandsland von Cabo Raso führt. Der Autor beschreibt komplexe technische Zusammenhänge verständlich und webt sie in eine persönliche Erzählung ein. Dennoch bleibt das Buch trotz fünfjähriger Recherchen merkwürdig an der Oberfläche seines Gegenstands hängen.
Die Anatomie des digitalen Geistes
Die Stärke des Buches liegt in den Ausführungen zu „Mind Reading AI“. Delcker versteht darunter „Programme, die scheinbar aus dem Nichts verstehen, was wir denken und fühlen, woran wir glauben und wie wir sind – all die Eigenschaften, die zusammen das ausmachen, was im Deutschen oft als ‚Geist‘ und im Englischen als mind bezeichnet wird.“ Sein Buch handelt weniger vom allgemeinen KI-Hype, sondern einem bislang noch oft übersehenen Teilbereich, in dem der Autor die nächste Stufe der technologischen Evolution sieht.
Die Reise beginnt bei den Algorithmen sozialer Medien. In Buenos Aires beobachtet Delcker an sich selbst, wie TikTok schon bei seiner Ankunft diverse persönliche Informationen über ihn zu wissen scheint, ohne dass er diese Informationen bewusst geteilt hätte. Die Plattformen beschreibt er als „Dopamin-Fabriken“, die mit ausgeklügelten Mechanismen unser Belohnungssystem kapern. „Was sich wie Gedankenlesen anfühlen kann, ist in Wirklichkeit ein statistisches ‚Gedanken-Schätzen‘“, die etwas mit unserem Gehirn macht. So schildert er das Suchtpotenzial digitaler Medien. Er zitiert die Psychiaterin Anna Lembke mit einer beunruhigenden Prognose: „Wenn man nun über eine direkte Verbindung das Dopamin-Belohnungssystem im Gehirn kybernetisch aktiviert, schaffen Sie die potenziell am stärksten süchtig machende Droge der Menschheit.“ Diese Verbindung zwischen harmlosen Apps und neurobiologischen Mechanismen sieht Delcker höchstens als Vorbote, für das was noch kommt. Wir stehen erst „am Anfang eines Zeitalters (…), in dem Technologie immer besser darin wird, auszuwerten, was wir denken und fühlen“. Von dort spannt er den Bogen zu Emotionserkennungssystemen, die in Smart Cities bereits eingesetzt werden, zu KI-gestützten Persönlichkeitsanalysen im Recruiting und schließlich zu den spektakulärsten Entwicklungen: Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI), die bereits heute gelähmten Menschen helfen, Prothesen mit Gedankenkraft zu steuern, und morgen vielleicht gesunden Menschen „Motivation auf Knopfdruck“ oder „verstellbare Stimmung“ bieten könnten. Im Zwang zur Selbstoptimierung wird eine solche Technik auch jenseits einer medizinischen Indikation vermutlich rasend um sich greifen – jedenfalls dann, wenn BCIs einmal ohne Operationen am Gehirn genutzt werden können. Delcker weist auch darauf hin, dass die Fortschritte in „Mind Reading AI“ eine umfassende Überwachung von Menschen durch Staaten und Unternehmen ermöglichen könnten. Die Behauptung „Die Gedanken sind frei“, die mit dem gleichnamigen Lied seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufgestellt wird, dürfte bald nicht mehr zutreffen.
Regulierung, statt digitalem Detox
Das reguliert man am besten, bevor es soweit kommt, oder? Wie Regulierung entsteht und warum ihre Ergebnisse oft hinter den Erwartungen zurückbleiben, schildert Delcker anhand des europäischen AI Acts. Der Journalist berichtet von den ungleichen Lobbyschlachten zwischen Tech-Giganten und Zivilgesellschaft. Ihre Zugangs- und Machtasymmetrien führen auf den letzten Metern immer wieder zur Einführung von Änderungen „durch die Hintertür“ zugunsten von Big Tech.
Warum Delcker das so stehen lässt, ist nicht nachvollziehbar. Wie ein Fremdkörper in seinem Buch, schließt er als Lösungsvorschlag mit seiner „RE∙C∙O∙DE-Methode“ – ein Akronym für „reflect, change, organize, detach“. Nach seinen Ausführungen über die systematische Unterwanderung unserer kognitiven Autonomie durch Konzerne und Algorithmen mutet es seltsam an, das Problem mit Ratschlägen wie „Push-Benachrichtigungen abschalten“ und „digitales Fasten“ zu adressieren. Mit den strukturellen Herausforderungen durch KI, oder speziell auch durch „Mind Reading AI“ wird man nicht fertig, indem man individuell digitalen Detox betreibt oder seine Kinder auf Smartphone-Nutzung vorbereitet. Hier hätte man sich eine konsequentere Fortführung der politischen Analyse gewünscht.
Ein Anfang
Trotz dieser Schwächen legt Delcker ein Buch vor, das sich so wegliest und ohne Vorkenntnisse auch für Nicht-Fachleute zugänglich ist. Neurotechnologie ist eines der zentralen Felder der KI-Entwicklung, das aktuell kaum eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Delckers journalistische Bestandsaufnahme ändert das hoffentlich.
Janosch Delcker: Der Gedanken-Code. Wie künstliche Intelligenz unser Denken entschlüsselt und wir trotzdem die Kontrolle behalten. Verlag C.H.Beck, 2024, 206 Seiten

